FRANK SCHÄTZING: Der Schwarm

ISBN 9783462033748

Verlag: Kiepenheuer & Witsch GmbH, 2004

Seite 126ff (K&W)

……… 6. April

KIEL, DEUTSCHLAND

Zwei Wochen, nachdem er Tina Lund die Abschlussberichte der Wurmanalysen übergeben hatte, saß Sigur Johanson in einem Taxi, das ihn zu Europas renommiertester Adresse für marine Geowissenschaften fuhr, zum Forschungszentrum Geomar.

Wann immer es um Aufbau, Entstehung und Geschichte des Meeresbodens ging, wurden die Wissenschaftler aus Kiel konsultiert. Kein Geringerer als James Cameron ging bei den Kielern ein und aus, um sich den letzten Segen für Projekte wie Titanic und The Abyss zu holen. Der Öffentlichkeit war die Arbeit der Geomar-Forscher eher schwer zu erklären. Das Herumstochern in Sedimenten und das Messen von Salzgehalten schien auf den ersten Blick wenig zur Beantwortung drängender Menschheitsfragen beizusteuern. Ohnehin konnte sich kaum jemand vorstellen, was noch Anfang der Neunziger nicht mal die Mehrzahl der Wissenschaftler hatte glauben wollen: Am Boden der Meere, fernab von Sonnenlicht und Wärme, erstreckte sich keine leere, felsige Wüste. Es wimmelte dort von Leben. Zwar wusste man schon länger von exotischen Artengemeinschaften entlang vulkanischer Tiefseeschlote. Als jedoch 1989 der Geochemiker Erwin Suess von der Oregon State University zum Geomar-Forschungszentrum berufen wurde, erzählte er von noch bizarreren Dingen, von Oasen des Lebens an kalten Tiefseequellen, von geheimnisvollen chemischen Energien, die aus dem Erdinnern aufstiegen – und vom massenhaften Vorkommen einer Substanz, die bis dahin als vermeintlich exotisches Zufallsprodukt kaum Beachtung gefunden hatte: Methanhydrat.

Spätestens jetzt traten die Geowissenschaften aus dem Schatten heraus, den sie -wie die meisten Wissenschaften- selber zu lange geworfen hatten. Sie versuchten sich mitzuteilen. Sie nährten die Hoffnung, Naturkatastrophen, Klima- und Umweltentwicklungen zukünftig berechnen und beeinflussen zu können. Methan schien zudem die Antwort auf die Energieprobleme von morgen zu geben. Der Berichterstattungshunger der Presse war geweckt, und die Forscher lernten -anfangs zögerlich, dann zunehmend in der Manier von Popstars-‚ sich das neu erwachte Interesse zunutze zu machen.

Der Mann, der Johansons Taxi zur Kieler Förde steuerte, schien von alldem nicht viel mitbekommen zu haben. Seit zwanzig Minuten gab er seinem Unverständnis darüber Ausdruck, wie man ein Millionen teures Forschungszentrum in die Hände von Verrückten hatte geben können, die von dort alle paar Monate zu kostspieligen Kreuzfahrten aufbrachen, während seinesgleichen kaum über die Runden kam. Johanson, der ausgezeichnet Deutsch sprach, verspürte wenig Lust, die Dinge gerade zu rücken, aber der Mann redete ununterbrochen auf ihn ein. Dabei fuchtelte er dermaßen mit den Händen, dass der Wagen immer wieder gefährlich abdriftete.

“Kein Mensch weiß, was die da überhaupt tun”, schimpfte der Fahrer.

“Sind Sie von der Zeitung?”, fragte er schließlich, als Johanson keine Antwort gab.

“Nein. Ich bin Biologe.”

Der Fahrer wechselte augenblicklich das Thema und erging sich über die nicht abreißende Folge von Nahrungsmittelskandalen. Offenbar sah er in Johanson einen der Verantwortlichen, jedenfalls schimpfte er nun auf genmanipuliertes Gemüse und überteuerte Bioprodukte und funkelte seinen Fahrgast herausfordernd an.

“Sie sind also Biologe. Wissen Sie, was man noch essen kann? Ich meine, bedenkenlos! Ich weiß es jedenfalls nicht. Nichts kann man mehr essen. Man sollte überhaupt nichts mehr essen, was sie einem verkaufen. Man sollte ihnen keinen Cent dafür geben.”

Der Wagen geriet auf die Gegenfahrbahn.

“Wenn Sie nichts essen, werden Sie verhungern”, sagte Johanson.

“Na und? Ist doch egal, woran man stirbt, oder? Wenn man nichts isst, stirbt man, isst man was, stirbt man am Essen.”

“Sie haben ganz sicher Recht. Ich persönlich würde es übrigens vorziehen, an einem gedopten Filetsteak zu sterben, als am Kühler dieses Tanklastwagens da.”

Der Fahrer griff unbeeindruckt ins Lenkrad und zog den Wagen in rasantem Tempo quer über drei Spuren in eine Ausfahrt. Der Tankwagen donnerte an ihnen vorbei. Zur Rechten sah Johanson Wasser. Sie fuhren entlang des Ostufers der Kieler Förde. Gewaltige Krananlagen reckten sich auf der gegenüberliegenden Seite zum Himmel.

Offenbar hatte der Taxifahrer Johansons letzte Bemerkung krumm genommen, denn fortan würdigte er ihn keines Wortes mehr. Sie durchquerten vorstädtische Straßen mit spitzgiebeligen Häusern, bis unvermittelt der lang gestreckte Gebäudekomplex aus Ziegeln, Glas und Stahl daraus auftauchte, seltsam unpassend inmitten der kleinbürgerlichen Beschaulichkeit. Der Fahrer bog scharf auf das Institutsgelände ab und kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Röchelnd erstarb der Motor. Johanson atmete tief durch, bezahlte und stieg aus in der Gewissheit, während der letzten fünfzehn Minuten weit Schlimmeres durchgestanden zu haben als an Bord des Statoil-Helikopters.

“Ich würde wirklich gerne wissen, was die da drinnen treiben”, sagte der Fahrer ein letztes Mal. Er sagte es mehr zu seinem Lenkrad.

Johanson bückte sich und sah ihn durch die Beifahrertür an. “Wollen Sie’s wirklich wissen?”

“Ja.”

“Sie versuchen, das Gewerbe der Taxifahrer zu retten.” Der Fahrer blinzelte ihn verständnislos an.

“So oft bringen wir nun auch keinen hierher”, sagte er unsicher. “Nein. Aber um es zu tun, müsst ihr Auto fahren. Wenn kein Benzin mehr da ist, könnt ihr eure Kisten entweder verschrotten oder auf was anderes umsteigen, und das liegt unten im Meer. Methan. Brennstoff. Sie versuchen, ihn nutzbar zu machen.”

Der Fahrer runzelte die Stirn. Dann sagte er:

“Wissen Sie, was das Problem ist? Keiner erklärt einem so was.” “Es steht in allen Zeitungen.”

“Es steht in Zeitungen, die Sie lesen, mein Herr. Keiner bemüht sich, es mir zu erklären.”

Johanson setzte zu einer Antwort an. Dann nickte er nur und schlug die Tür zu. Das Taxi wendete und schoss davon.

“Dr. Johanson.”

Aus einem verglasten Rundbau trat ein braun gebrannter junger Mann und kam zu ihm herüber. Johanson schüttelte die ausgestreckte Hand.

“Gerhard Bohrmann?”

“Nein. Heiko Sahling. Biologe. Dr. Bohrmann wird sich eine Viertelstunde verspäten, er hält einen Vortrag. Ich kann Sie hinbringen, oder wir schauen, ob wir in der Kantine einen Kaffee kriegen.”

“Was wäre Ihnen lieber?”

“Was Ihnen lieber ist. Übrigens sehr interessant, Ihre Würmer.” “Sie haben sich damit beschäftigt?”

“Wir alle haben uns damit beschäftigt. Kommen Sie, wir heben uns den Kaffee für später auf. Gerhard wird gleich fertig sein, wir spielen so lange Zaungast.”

Sie betraten ein großes, geschmackvoll gestaltetes Foyer. Sahling führte ihn eine Treppe hinauf und über eine frei schwebende Stahlbrücke. Für ein wissenschaftliches Institut, fand Johanson, bewegte sich Geomar verdächtig nahe am Designerpreis.

“Im Allgemeinen werden Vorlesungen im Hörsaal abgehalten”, erklärte Sahling. “Aber wir haben eine Schulklasse zu Besuch.”

“Sehr löblich.”

Sahling grinste. “Für Fünfzehnjährige ist ein Hörsaal von einem Klassenzimmer nicht zu unterscheiden. Also sind wir mit denen durch das Institut gestreift, und sie durften überall reinschauen und fast alles anpacken. Die Lithothek haben wir bis zuletzt aufgespart. Gerhard erzählt ihnen dort die Gutenachtgeschichte”

“Worüber?”

“Methanhydrate”.

Sahling öffnete eine Schiebetür. Auf der anderen Seite setzte sich die Brücke fort. Sie traten hinaus. Die Lithothek besaß die Größe eines mittleren Flugzeughangars. Zum Quai hin war das Gebäude offen, und Johanson erhaschte einen Blick auf ein ziemlich großes Schiff. Kisten und Gerätschaften stapelten sich entlang der Wände.

“Hier werden Proben zwischengelagert”, erklärte Sahling. “Vornehmlich Sedimentkerne und Seewasserproben. Archivierte Erdgeschichte. Wir sind angemessen stolz drauf.”

Er hob kurz die Hand. Unten grüßte ein hoch gewachsener Mann zurück und widmete sich wieder einer Gruppe Halbwüchsiger, die sich neugierig um ihn scharte. Johanson lehnte sich ans Brückengeländer und lauschte der Stimme, die zu ihnen heraufdrang.

“… einer der aufregendsten Momente, die wir je erlebt haben”, sagte Dr. Gerhard Bohrmann gerade. “Der Greifer hatte in beinahe achthundert Metern Tiefe einige Zentner Sediment herausgebrochen, durchsetzt mit einer weißen Substanz, und schüttete die Brocken aufs Arbeitsdeck. Beziehungsweise das, was oben noch ankam”

“Das war im Pazifik”, erläuterte Sahling leise. “1996 auf der Sonne, etwa hundert Kilometer vor Oregon. “

“Wir mussten schnell sein. Methanhydrat ist nämlich ein ziemlich instabiles und unzuverlässiges Zeug”, fuhr Bohrmann fort. “Ich schätze, ihr wisst nicht sonderlich viel darüber, also werde ich versuchen, es so zu erklären, dass keiner vor Langeweile einschläft. – Was geschieht tief unten im Meer? Unter anderem entsteht Gas. Biogenes Methan zum Beispiel bildet sich seit Jahrmillionen beim Abbau von Tier- und Pflanzenresten, wenn Algen, Plankton und Fische verwesen und jede Menge organischer Kohlenstoff freigesetzt wird. Den Abbau besorgen vorzugsweise Bakterien. Nun ist es so, dass in der Tiefsee niedrige Temperaturen und ein außerordentlicher Druck herrschen. Alle zehn Meter nimmt der Wasserdruck um ein Bar zu.

……….